Wir befinden uns an einem entscheidenden Punkt, um die Weichen für die digitale Transformation des Gesundheitswesens in Deutschland zu stellen.
Eine Richtung ist die der Verweigerung, der Bedenken, der Überbetonung des Datenschutzes und der informationellen Selbstbestimmung, der Maximierung der Datensicherheit, der Blockade und der Versteifung auf einen Datenschutz alter Prägung, den die Apologeten dieser Richtung wie eine Monstranz unter Berufung auf das Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts zur Volkszählung 1983 vor sich hertragen.
Und die andere Richtung? Die andere Richtung ist die einer Datennutzung im wohlverstandenen Interesse der Diagnostik und Behandlung des einzelnen Patienten, zur Erforschung klinischer Zusammenhänge für die Entwicklung innovativer Arzneimittel, Medizinprodukte, in-vitro-Diagnostika und digitaler Gesundheitsanwendungen. Einer Datennutzung, die Disease Interception, Prävention und Diagnostik, aber auch Public Health, betriebliche Gesundheitsförderung, Pandemiemanagement und vieles mehr mit einem Kalibersprung auf ein ganz neues Niveau befördern kann. Dazu bedarf es allerdings einer adaptiven Gesetzgebung, die sich schnell und agil auf neue Anforderungen einstellt und die benötigten passenden Rahmenbedingungen schafft.
Mit der Redaktion von "Operation Gesundheitswesen" (OPG) haben wir ein Forum von 15 Experten eröffnet, um die Herausforderungen dieses Wandels aus allen Perspektiven zu beleuchten. Provokante Fragen und fundierte Antworten bieten ein facettenreiches Bild dieser komplexen Thematik. In den Interviews finden sich mehr als hundert Anregungen, Vorschläge und Forderungen. Und in einem ganz wichtigen Punkt stimmen die Aussagen überein: Es ist allerhöchste Zeit, die Versäumnisse Deutschlands in der digitalen Transformation des Gesundheitswesens zu adressieren und nachzuholen, was bislang unterblieb.
In verblüffender Klarheit identifizieren die Expertinnen und Experten die Defizite, Handlungsnotwendigkeiten und Lösungen für ein digitales Gesundheitssystem. Die Themen lassen sich in drei große Handlungsfelder clustern: Anforderungen an die Weiterentwicklung des regulatorischen Rahmens, der Interoperabilität und der Datennutzung. Ausgehend von den Thesen der Interviews möchte ich nachfolgend – ohne Konsens mit allen Experten und das Risiko der Unvollständigkeit in Kauf nehmend – folgende Aspekte im Sinne eines Leitfadens für die Politik der 20. Legislaturperiode akzentuieren:
- Die unterschiedlichen rechtlichen Vorgaben der Europäischen Union, des Bundes und der Länder müssen in Gleichklang gebracht werden – der föderale Flickenteppich muss ein Ende finden. Konzentration der Zuständigkeiten und Angleichung der Rechtsnormen, auch im europäischen Kontext, sind zentrale Aufgaben für die nächste Legislaturperiode. Ein Code of Conduct soll dazu beitragen, dass unbestimmte Rechtsbegriffe einheitlich ausgelegt werden und die gebotene Einheitlichkeit der Rechtsanwendung erreicht wird.
- Die bislang apodiktische Trennung zwischen Versorgungsdatenverarbeitung und Forschungsdatenverarbeitung muss aufgehoben werden. Nicht nur sollten die Sektoren in der Versorgung (ambulant/stationär/Pflege/u.a.) verbunden werden, es bedarf auch der Herstellung eines Kontinuums zwischen Versorgung und Forschung und vice versa. Daten aus der Versorgung müssen der Forschung zugänglich sein, Forschungsergebnisse müssen zeitnah in die Versorgung übermittelt werden, um den Stand der Erkenntnis unmittelbar am Patienten umsetzen zu können. Dieses Datenkontinuum ist auch erforderlich für das Monitoring einer Therapie mit Arzneimitteln, Medizinprodukten, In-Vitro-Diagnostika und digitalen Gesundheitsanwendungen. Nicht nur die Anwender, auch die Entwickler und Hersteller neuer Methoden müssen so in die Lage versetzt werden, aus den realen Versorgungsdaten Evidenz-basierte Erkenntnisse für die Weiterentwicklung ihrer Produkte und Dienstleistungen zu generieren.
- Das Minimalprinzip der Datenverarbeitung hat ausgedient: Um mit den vorhandenen Daten und den noch zu erhebenden wirklich einen Nutzen generieren zu können, sollte für die medizinische Versorgung und Forschung die gesellschaftliche und rechtliche Grundeinstellung die einer umfassenden Datenerhebung sein. Mit einer solchen default position kann es nicht mehr nur um ein Opt-in gehen, sondern es muss Opt-out heißen. Die elektronische Patientenakte sollte Bestandteil dieser Neuorientierung werden. Wer sich damit nicht identifizieren mag, soll das ablehnen dürfen. Für Verarbeitungen ohne Opt-out müssen standardisierte Einwilligungsverfahren eingesetzt werden. Diese Datenerhebung und -verarbeitung ist Bestandteil eines Generationenvertrags, mit dem wir die Grundlagen für spätere Erkenntnisse schaffen, von denen wir heute noch nicht wissen können, welche es einmal sein werden.
- Um die Bürger zu motivieren, ihre persönlichen Daten zur Verfügung zu stellen, müssen sie entsprechend informiert sein (Gesundheitskompetenz). Hier ist die Politik in der Pflicht, verlässliche und leicht verständliche Informationen bereit zu stellen.
- Aufsichtsbehörden mit qualifizierten Mitarbeitern und ausreichenden Ressourcen sind ein wichtiger Faktor im internationalen Wettbewerb. Zur Qualifikation gehört auch das Verständnis, dass nicht der Schutz der Daten an und für sich, sondern der Schutz der Forschung eine wichtige Funktion ist, die freilich die Sicherung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung zugrunde legen muss.
- Die Qualität der Daten ist die entscheidende Voraussetzung für den Einsatz zur Verbesserung der Versorgung. Dies gilt insbesondere für das Training intelligenter Algorithmen. Deshalb gilt es, Standards für strukturierte Daten zu schaffen und die Interoperabilität zu stärken, ohne dass dabei deutsche Spezifikationen einen internationalen Wettbewerb ausgrenzen. Auch muss Deutschland eine stärkere Rolle bei der Bildung eines EU Data Space für die Nutzung von Gesundheitsdaten spielen. Unternehmen aus Drittstaaten außerhalb des EWR können sich an diesen Vorhaben beteiligen, wenn sie die von der EU vorgegebenen Spielregeln einhalten.
- Es reicht nicht aus, Daten zu erheben und wegzusperren. Sie müssen auch genutzt werden. Datennutzungsgesetze müssen daher die Voraussetzungen einer sicheren Nutzung insbesondere auch durch Unternehmen der privaten Wirtschaft schaffen. Es darf nicht sein, dass eine Datennutzung aufgrund bestehender Risiken unterbleibt. Die Rechtsordnung hat ausreichend Erfahrung darin, sinnvolle, aber risikobehaftete Aktivitäten durch einen Kontrollrahmen in praktischer Konkordanz widerstreitender Interessen zu ermöglichen, man denke nur an den Straßenverkehr. Zu dieser Sicherung muss auch die Strafbarkeit unzulässiger Identifikationsversuche gehören. In der Zielstruktur sollte die Nutzung pseudonymer Daten unter Wahrung bestmöglicher Sicherheit enthalten sein. Auch sollte die rückwirkende Beforschung eines Therapieeinsatzes außerhalb zugelassener Anwendungsgebiete vereinfacht werden.
- Der Einsatz künstlicher Intelligenz in der Forschung mit Gesundheitsdaten und in der individuellen Diagnostik und Therapieentscheidung birgt große Potenziale. Vorsicht ist daher geboten, wenn der europäische und der nationale Gesetzgeber diese Möglichkeiten allzu stark einschränken und damit nicht nur die Risiken, sondern auch die Erfolgschancen dieses Forschungsbereichs und dieser Technologien minimieren.
Die gebündelten Erkenntnisse der Experten in diesem OPG-Special sind eindeutig:
Wir müssen den Datenschutz mit dem notwendigen Zugang für die wissenschaftliche Forschung in Einklang bringen, den Rechtsrahmen angleichen, Interoperabilität herstellen und vor allem die Datennutzung zur Verbesserung der Versorgungsqualität ermöglichen.
Nur so können wir den Wert schaffen, der in den Daten steckt.
Nur so können wir im internationalen Wettbewerb bestehen und die Kontrolle über die in unseren Systemen erzeugten Daten und deren Verarbeitung behalten.
Und nur so können wir das eigentliche Ziel der digitalen Transformation erreichen – die Qualität der Versorgung zu verbessern.
Jetzt ist es an der Zeit, das Spiel zu ändern und die Weichen zu stellen - Worauf warten wir noch?
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