LSG Berlin-Brandenburg entscheidet zu Nutzenbewertung des G-BA

14. Feb. 2018

Das LSG Berlin-Brandenburg hat einen Schiedsspruch der Schiedsstelle nach § 130b SGB V aufgehoben, weil die Nutzenbewertung des Gemeinsamen Bundesausschusses rechtswidrig war.

Kurzwiedergabe

Nach dem Urteil des 1. Senats des LSG Berlin-Brandenburg vom 25.01.2018 (Az.: L 1 KR 295/14 KL), gegen das die Revision noch möglich ist, hat der GBA bei der Bewertung eines neuen Arzneimittels mit dem Wirkstoff Linaclotid Rechtsfehler begangen, die zu einer Aufhebung des Schiedsspruchs vom 24. Juni 2014 führen. Das Schiedsverfahren selbst wurde dagegen nicht beanstandet. In dem Verfahren war unter anderem streitig, wie mit nichtmedikamentösen Behandlungsoptionen in der GKV, insbesondere einer Ernährungsberatung und Psychotherapie umgegangen werden soll. Der GBA muss ärztliche Leistungen, die bei Anwendung des bewerteten Arzneimittels eventuell nicht notwendig werden, notfalls schätzweise ermitteln. Der GBA hatte für Linaclotid keinen Zusatznutzen festgestellt. Das Arzneimittel, das nicht mehr in Deutschland vertrieben wurde, ist von der EU-Kommission für die symptomatische Behandlung des mittelschweren bis schweren Reizdarmsyndroms mit Obstipation zugelassen worden.

Was ist wichtig?

Das LSG hat eine Antwort auf eine Frage gegeben, die sich in vielen Nutzenbewertungsverfahren nach § 35a SGB V stellt: Können nichtmedikamentöse Behandlungsoptionen auch dann eine zweckmäßige Vergleichstherapie sein, wenn unklar ist, wie viele der Patienten in der Indikation des Arzneimittels mit diesen Verfahren behandelt werden können, und wenn nicht genau ermittelt werden kann, welche Kosten dadurch den Krankenkassen entstehen?

Der 1. Senat knüpft in der knapp 60 Seiten umfassenden Entscheidung an viele bereits bekannte Aussagen aus der Rechtsprechung des LSG an. Der Schiedsspruch ist ein Verwaltungsakt, der die Inhalte der Erstattungsbetragsvereinbarung für die Parteien verbindlich festsetzt. Die gerichtliche Kontrolle des Schiedsspruchs ist durch eine „Einschätzungsprärogative“ der Schiedsstelle reduziert: Die Gerichte dürfen primär nur die Einhaltung eines fairen und willkürfreien Verfahrens sowie die Wahrung der materiellen gesetzlichen Vorgaben bei der Entscheidungsfindung kontrollieren. Der Inhalt des Schiedsspruchs ist darüber hinaus der Einschätzungsprärogative der Schiedsstelle zuzurechnen, sodass insbesondere die monetäre Bewertung der Parameter des Erstattungsbetrags gerichtlich nicht weitergehend überprüft werden kann. Die Einzelheiten sind jedoch noch nicht abschließend geklärt, beim BSG sind mehrere Revisionen hierzu anhängig.

Im diesem Fall lagen nach Auffassung des 1. Senats die Rechtsfehler in der Nutzenbewertung durch den GBA: Als zweckmäßige Vergleichstherapie wurde allein eine Ernährungsumstellung entsprechend ärztlicher Beratung aufgenommen. Das LSG rügt primär, dass nicht nachvollziehbar sei, weshalb die nichtmedikamentöse Behandlungsoption der Psychotherapie als zweckmäßige Vergleichstherapie abgelehnt wurde. Immerhin komme die Psychotherapie auch nach Auffassung des IQWiG bei bis zu 20% der Patienten zur Therapie (psycho-) somatischer Beschwerden in Betracht, die mit Linaclotid behandelt werden können. Die Anwendung der Psychotherapie beim mittelschweren bis schweren Reizdarmsyndrom wird nach den Feststellungen des LSG nämlich auch in Leitlinien mit dem Evidenzlevel A empfohlen.

Die für die Psychotherapie anfallenden Kosten müssten nach Auffassung des LSG notfalls geschätzt werden. Dafür habe der GBA die Regelung des § 4 Abs. 8 AM-NutzenV analog anzuwenden. Diese Vorschrift betrifft an sich nur das Dossier des pharmazeutischen Unternehmers und dessen Kostendarstellung. Ihre analoge Anwendung auf die Ermittlung der Kosten der zweckmäßigen Vergleichstherapie durch den GBA bedeutet, dass alle regelhaften Unterschiede bei der Inanspruchnahme von ärztlichen Leistungen zwischen dem bewerteten Arzneimittel und der jeweiligen Vergleichstherapie berücksichtigt werden müssen. Spannend ist dabei, dass das LSG den auf der Hand liegenden Einwand, dass die ärztlichen Leistungen durch die Gesamtvergütung an die jeweilige Kassenärztliche Vereinigung pauschalierend abgegolten werden, nicht hat gelten lassen: Es sei nicht ausgemacht, dass Patienten für das bewertete Arzneimittel im selben Umfang ärztliche Leistungen in Anspruch nehmen wie für die nichtmedikamentöse Vergleichstherapie (hier: Ernährungsberatung). Der GBA müsse daher schätzweise ermitteln, welche ärztlichen Gebührenziffern bei der Anwendung der Vergleichstherapie anfallen. Auch wenn nur ein Bruchteil an ärztlichen Leistungen weniger anfällt, könne insoweit eine Umrechnung des Punktvolumens in Euro und somit die Quantifizierung der Leistungen erfolgen. Auch sei zu prüfen, ob bei der Vergleichstherapie eventuell mehr Notfallverordnungen von Arzneimitteln oder Arztbesuche außerhalb der Sprechzeiten anfallen. Die gleiche Argumentationslinie betrifft den zweiten Einwand, dass die ärztlichen Leistungen der Ernährungsberatung mit der Grundpauschale nach dem EBM vergütet werden: Es sei zu ermitteln und ggf. zu schätzen, ob über die Grundpauschale hinaus weitere Inanspruchnahmen der Vertragsärzte erfolgen, etwa durch Notdienstbesuche, Behandlungen außerhalb der üblichen Sprechzeiten oder unter Nutzung anderer EBM-Abrechnungsziffern.

Besonders interessant ist, dass die Ersparnis von ärztlichen Leistungen nicht im Dossier des pharmazeutischen Unternehmers dargestellt worden war. Das LSG nahm hieran jedoch keinen Anstoß, weil der pharmazeutische Unternehmer nach dem Ergebnis der vorherigen Beratung durch den GBA nach § 35a Abs. 8 SGB V nicht mit der Entscheidungserheblichkeit dieser Kosten rechnen musste.

Folgerungen für die Praxis

Auf den GBA dürfte einiges Kopfzerbrechen zukommen, wie insbesondere Kosten für ärztliche Leistungen infolge einer zweckmäßigen Vergleichstherapie notfalls durch Schätzung ermittelt werden können. Dabei ist zu beachten, dass das LSG ihn nicht zu einem erneuten „Slicing“ in Teilpopulationen anhand der Vergleichstherapien verpflichtet, im Gegenteil: Auch wenn nur ein Teil der Gesamtpopulation einer Arzneimitteltherapie mit einer nichtmedikamentösen Therapie behandelt werden kann, handelt es sich um eine Vergleichstherapie für die gesamte Patientenpopulation.

Die Grundsätze dieses Urteils werden sicherlich in zukünftige Nutzenbewertungsdossiers einfließen. Darüber hinaus sind sie bereits für laufende Nutzenbewertungsverfahren und auch Erstattungsbetragsverhandlungen relevant, da es sich um die Auslegung von bereits geltendem Recht handelt.